Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, empfängt Mark Rutte, Generalsekretär der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO).
Wiki | Christophe Licoppe / European Union - CC BY 4.0

➡️ EU-Sonderschulden für Aufrüstung - eine kritische Analyse

Die Europäische Union erlebt eine tiefgreifende Neuausrichtung ihrer Verteidigungspolitik, die mit einer beispiellosen Aufstockung der militärischen Ausgaben und der Einführung gemeinsamer Schuldeninstrumente einhergeht. Diese Maßnahmen sind eine direkte Reaktion auf die anhaltenden geopolitischen Spannungen, insbesondere den Krieg in der Ukraine, sowie die zunehmende Unsicherheit über die Verlässlichkeit der US-amerikanischen Sicherheitsgarantien unter Donald Trump.

Im März 2025 stellte die Europäische Kommission die Initiative „Readiness 2030“ vor, die ursprünglich als „ReArm Europe“ bekannt war. Ziel dieser Initiative ist es, 800 Milliarden Euro für Verteidigungsausgaben bis 2030 zu mobilisieren. Ein zentraler Bestandteil dieses Plans ist ein Kreditprogramm in Höhe von 150 Milliarden Euro, das Mitgliedstaaten für gemeinsame Rüstungsprojekte zur Verfügung steht. Darüber hinaus sollen durch die Lockerung der EU-Haushaltsregeln zusätzliche 650 Milliarden Euro an nationalen Verteidigungsausgaben ermöglicht werden.

Die Initiative sieht auch vor, bestehende EU-Fonds wie die Kohäsionsmittel für Verteidigungsinvestitionen umzuwidmen und die Rolle der Europäischen Investitionsbank zu stärken, indem Beschränkungen für Kredite an Rüstungsunternehmen aufgehoben werden. Ein weiteres Ziel ist die Mobilisierung privaten Kapitals durch die Schaffung einer „Sicherheitsunion“, um Investitionen in die Verteidigungsindustrie zu fördern.

In 2024 erreichten die Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten 326 Milliarden Euro, was etwa 1,9 % des EU-BIP entspricht. Dies stellt einen Anstieg von 30 % gegenüber 2021 dar. Die Investitionen in neue Verteidigungstechnologien beliefen sich auf 102 Milliarden Euro, wobei 88 % dieser Mittel für die Beschaffung neuer Ausrüstung wie Luftabwehrsysteme, Drohnen und Artillerie verwendet wurden.

Auf Better World Info findest du unsere ➡️ englischen Infos zum Thema.

Eine Statistik zu den EU-Aufrüstungsplänen
statista 2025

Nationale Politiken zur Militarisierung

Einige Mitgliedstaaten haben bereits erhebliche Schritte unternommen, um ihre Verteidigungsbudgets zu erhöhen. Polen hat seine Verteidigungsausgaben auf 4,1 % des BIP erhöht und plant, diesen Anteil in den folgenden Jahren weiter zu steigern. Auch Frankreich erhöht sein Verteidigungsbudget im Zeitraum 2024–2030 auf insgesamt 413 Milliarden Euro und modernisiert dabei seine Nuklearwaffen.

Italien investiert verstärkt in Cyberabwehr und moderne Rüstungssysteme. Die baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – haben ihre Verteidigungsausgaben deutlich über das NATO-Ziel von 2 % des BIP hinaus angehoben, um ihrer exponierten Lage an der Ostflanke Rechnung zu tragen.

Die Einführung gemeinsamer EU-Schulden zur Finanzierung der Verteidigung stößt jedoch nicht überall auf Zustimmung. Während Länder wie Spanien die Ausgabe gemeinsamer Anleihen kritisieren, äußern sich fiskalisch konservative Staaten wie Deutschland und die Niederlande skeptisch gegenüber einer weiteren Vergemeinschaftung von Schulden.

Die Lage in Deutschland

Die neue Bundesregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz verfolgt einen klaren Kurs der militärischen Aufrüstung. Geplant ist eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben, mit dem Ziel, die Bundeswehr zur „konventionell stärksten Armee Europas“ auszubauen. Hierfür wurden sowohl nationale Sondervermögen als auch EU-Sonderschulden ins Spiel gebracht. Konkret hat der Bundestag, die Schuldenbremse reformiert, sodass Verteidigungsausgaben oberhalb eines bestimmten Schwellenwerts (1 % des BIP) nicht mehr auf die reguläre Staatsverschuldung angerechnet werden. Ein Sonderfonds für Infrastruktur- und Sicherheitsinvestitionen in Höhe von bis zu 500 Milliarden Euro ist ebenfalls beschlossen.

Innerhalb der Regierungskoalition, bestehend aus CDU/CSU und SPD, gibt es jedoch unterschiedliche Akzente. Während Merz den Fokus auf militärische Schlagkraft und europäische Abschreckung legt, warnen einige Politiker der SPD vor einem überzogenen Militarisierungskurs. SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner kritisiert etwa Pläne zur Steigerung des Verteidigungsbudgets auf bis zu 5 % des BIP als finanzpolitisch unverantwortlich und fordert eine bessere Balance zwischen Sicherheit, Sozialstaat und Zukunftsinvestitionen.

Auch die Grünen unterstützen gezielte Investitionen in Sicherheit, setzen aber auf eine Verbindung mit ökologischer Resilienz und Diplomatie. Die Linke und die AfD lehnen sowohl EU-Sonderschulden als auch die geplante Aufrüstung grundsätzlich ab. Wobei es aus der AfD auch immer wieder Gegenstimmen gibt, die beispielsweise Atomwaffen für Deutschland oder die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordern.

NATO-Soldaten bei einer Übung in Polen 2020
Wiki | U.S. Army photo by Sgt. Timothy Hamlin - CC0

Gefahren der EU-Aufrüstung

Während geopolitischen Spannungen zweifellos Handlungsdruck erzeugen, erscheint die beschleunigte Militarisierung der EU als riskanter Kurswechsel mit unklaren langfristigen Folgen. Zunächst ist die fiskalische Dimension problematisch. Mit einem angestrebten Schuldenvolumen und gelockerten nationalen Ausgaben droht eine massive Ausweitung der Gesamtverschuldung in einem ohnehin angespannten wirtschaftlichen Umfeld. Bereits 2024 lag die Netto-Neuverschuldung der EU bei rund 700 Milliarden Euro – Tendenz steigend. Eine expansive Ausgabenpolitik könnte mittel- bis langfristig inflationstreibend wirken und den fiskalischen Handlungsspielraum künftiger Generationen einschränken.

Ein Krieg in Europa wäre laut dem Institut für Weltwirtschaft (IfW) um ein Vielfaches teurer als Investitionen in wirksame Abschreckung. Zudem stellt sich die Frage, ob eine europäische Union, die sich bislang eher als Friedensprojekt verstanden hat, die Ausgabe gemeinsamer Schulden nun vorrangig für militärische Zwecke rechtfertigen kann, während Investitionen in Klima, Bildung oder soziale Gerechtigkeit mit Verweis auf Schuldenregeln begrenzt werden. Die Memorandum-Gruppe warnt, dass eine starke Erhöhung der Militärausgaben ohne entsprechende Steuererhöhungen oder Anpassungen der Schuldenbremse zwangsläufig zu Kürzungen in sozialen Bereichen führen wird. Das IfW empfiehlt daher, Verteidigungsausgaben von fiskalischen Regeln wie der Schuldenbremse auszunehmen.

Auch demokratiepolitisch ist der Schritt fragwürdig. Die Umwidmung bestehender EU-Fonds, wie der Kohäsionsmittel, für Verteidigungsausgaben geschieht vielfach ohne breite öffentliche Debatte oder ausreichende parlamentarische Kontrolle. Entscheidungen über Milliardenprojekte in der Rüstungsindustrie drohen in technokratischen Gremien und hinter verschlossenen Türen getroffen zu werden. Der Druck, schnell handlungsfähig zu erscheinen, darf nicht zulasten der demokratischen Legitimation gehen – besonders bei Themen, die so grundlegend in das Selbstverständnis der Union eingreifen.

Zudem ist die strategische Wirksamkeit der angestrebten Maßnahmen keineswegs gesichert. Die militärischen Kapazitäten der EU sind derzeit stark fragmentiert, Rüstungsprojekte verlaufen häufig ineffizient und national abgeschottet. Ohne tiefgreifende Reformen drohen die Milliarden in nationalen Einzelinteressen zu versanden. Auch die Aufhebung der bisherigen Beschränkungen für Rüstungskredite durch die Europäische Investitionsbank lässt befürchten, dass künftig noch stärker privatwirtschaftliche Interessen militärischer Konzerne gefördert werden – zulasten transparenter Gemeinwohlorientierung.

Eine Grafik dazu, dass die NATO-Länder mehrheitlich über der 2-Prozent-Marke sind
statista 2024

Dan Smith, Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI, erkennt die Notwendigkeit erhöhter Verteidigungsanstrengungen an, warnt jedoch vor einem überstürzten Vorgehen. Er betont, dass Europa bereits mehr in Rüstung investiere als Russland, jedoch oft ineffizient. Smith fordert eine sorgfältige Planung und stärkere Zusammenarbeit, um Ressourcen effektiv einzusetzen und langfristige Sicherheit zu gewährleisten.

Eine Studie von Kearney zeigt zudem, dass eine Erhöhung der Militärausgaben auf 2,5 % des BIP in Europa auf einem Mangel an 460.000 Fachkräften stoßen würde. Besonders betroffen vom Fachkräftemangel wären technologische Bereiche wie künstliche Intelligenz, autonome Waffensysteme und elektronische Kriegsführung. Zudem wird die Rüstungsindustrie als Arbeitsgeber und gesellschaftlich nicht unkritisch gesehen.

Nicht zuletzt besteht die Gefahr einer sicherheitspolitischen Eigendynamik: Mit jedem weiteren Schritt zur finanziellen, industriellen und institutionellen Aufrüstung rückt das alte europäische Leitbild der zivilen Konfliktlösung und Diplomatie weiter in den Hintergrund. Kritiker warnen daher vor einem Rüstungsautomatismus, der Europa nicht sicherer, sondern lediglich abhängiger von einer militärischen Logik macht – mit unkalkulierbaren Folgen für das europäische Projekt als Ganzes.

Alternativen zur EU-Aufrüstung

Angesichts der zunehmenden Militarisierung der Europäischen Union durch schuldenfinanzierte Rüstungsprogramme stellt sich die Frage nach tragfähigen Alternativen. Wie können wir die Sicherheit nachhaltig und wertebasiert gewährleisten, ohne dabei demokratische und wirtschaftliche Prinzipien zu untergraben? Eine solche alternative Sicherheitsstrategie setzt umfassender an – auf europäischer wie globaler Ebene. Sie beinhaltet sowohl zivile Krisenprävention als auch Resilienzförderung, diplomatische Initiativen und eine gezielte Reform der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Ein zentraler Baustein wäre die substanzielle Aufwertung ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Die EU gab 2023 rund 2,2 Milliarden Euro für militärische Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Rahmen des Europäischen Verteidigungsfonds aus - insgesamt wurden 280 Milliarden Euro für die Verteidigung ausgegeben. Im selben Zeitraum flossen weniger als 300 Millionen Euro in zivile Maßnahmen der Konfliktprävention. Ein gezielter Ausbau dieser Mittel auf mindestens 1 Milliarde Euro jährlich – wie vom European Peacebuilding Liaison Office (EPLO) vorgeschlagen – könnte deutlich zur Entschärfung globaler Konfliktherde beitragen und Europas friedenspolitisches Profil schärfen.

Ostermarsch in Hof (Saale) 2023 mit Banner für Frieden
Wiki | PantheraLeo1359531 - CC BY-SA 4.0

Darüber hinaus bietet die Stärkung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Resilienz eine langfristig effektivere Alternative zur klassischen Aufrüstung. Die COVID-19-Pandemie, der Ukrainekrieg und die Klimakrise haben gezeigt, wie stark Europas Sicherheit auch von funktionierenden Lieferketten, Energiesouveränität und sozialer Kohäsion abhängt. Investitionen in die energetische Unabhängigkeit – etwa durch den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien – könnten Europas geopolitische Verwundbarkeit erheblich senken. Laut EU-Kommission würde eine vollständige Umsetzung des REPowerEU-Plans bis 2030 Investitionen in Höhe von 210 Milliarden Euro erfordern – deutlich weniger als die geplanten 800 Milliarden Euro für militärische Zwecke, aber mit weitreichenderen Effekten für Stabilität und Nachhaltigkeit.

Auch im diplomatischen Bereich sind neue Impulse gefragt. Statt primär auf Abschreckung zu setzen, sollte die EU wieder eine führende Rolle als Vermittlerin einnehmen, etwa durch die Reaktivierung des multilateralen Dialogs zwischen NATO, OSZE und blockfreien Staaten. Ein Neustart der Konvention über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) oder ein europäischer Nichtverbreitungsvertrag für autonome Waffensysteme könnten konkrete diplomatische Schritte sein. Gleichzeitig sollte die EU ihre Rolle als Akteur in der Entwicklungs- und Klimapolitik ernst nehmen – denn stabile, faire internationale Beziehungen sind die beste Prävention gegen künftige Konflikte.

Nicht zuletzt wäre eine Reform der europäischen Sicherheitsarchitektur sinnvoll. Statt national konkurrierender Verteidigungshaushalte und teurer Rüstungsdoppelstrukturen könnte die EU eine schlankere, effizientere Sicherheitsunion aufbauen, die auf gemeinsame Verteidigungskompetenzen, eine koordinierte Beschaffungspolitik und eine stärkere Rolle des Europäischen Auswärtigen Dienstes setzt. Schon heute kosten ineffiziente Parallelstrukturen laut einem Bericht der Europäischen Verteidigungsagentur jährlich 26 Milliarden Euro – Geld, das durch kluge Integration gespart und für sinnvolle Alternativen eingesetzt werden könnte.

Autor: Maximilian Stark 26.05.25, lizenziert unter CC BY-SA 4.0

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