Gedenkfeier 100 Jahre Kriegsbeginn 1. Weltkrieg; und Angelobung von Rekruten
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➡️ Österreichs Neutralität - Zwischen Prinzip und Realität

Die Neutralität Österreichs ist einer der zentralen Grundpfeiler der Zweiten Republik – und prägt bis heute das außen- und sicherheitspolitische Selbstverständnis des Landes. Festgeschrieben wurde sie 1955, als Österreich im Staatsvertrag und dem darauf basierenden Neutralitätsgesetz versprach, dauerhaft neutral zu bleiben. Das war die Bedingung für den Abzug der alliierten Besatzungstruppen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Wiedererlangung staatlicher Souveränität.

Diese Neutralität ist formal „immerwährend“. Österreich verpflichtet sich damit, keinem Militärbündnis beizutreten und keine fremden Militärbasen zuzulassen. Im Kalten Krieg eröffnete dieser Sonderstatus diplomatischen Spielraum zwischen Ost und West und verschaffte dem Land eine wichtige Rolle als Brückenbauer. Wien entwickelte sich zum Sitz zahlreicher internationaler Organisationen wie der IAEA, OSZE oder der UNO und wurde immer wieder Schauplatz bedeutender Gipfeltreffen.

„Die Neutralität ist ein Kernstück unserer Identität – sie bedeutet aber nicht Gleichgültigkeit.“ - Alexander Van Der Bellen

Gleichzeitig hat die Neutralität auch eine identitätsstiftende Wirkung. Mehr als 70 % der Österreicher befürworten laut Umfragen von 2024 ihre Beibehaltung. 80 % sind für eine aktive Friedenspolitik Österreichs. Die Mitgliedschaft in der NATO lehnt eine klare Mehrheit ab. Für viele bedeutet Neutralität Sicherheit: die Garantie, sich aus militärischen Konflikten herauszuhalten. Gerade angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sehen viele in der Neutralität ein moralisches Bollwerk gegen Aufrüstungsspiralen und Blockdenken. Seit 1955 hat Österreich keinen Kriegseinsatz unterstützt, der aktiv einer Kriegspartei hilft – eine Glaubwürdigkeit, die es als Vermittler und Gastgeber für internationale Organisationen stärkt.

Interessant die Videos von 'Der Professor und der Wolf' zur Neutralität 11/22 und zum Nationalfeiertag 10/25.

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Anzahl der österreichischen Soldaten im Ausland
statista 2025

Die Neutralität in Gefahr

Doch die Neutralität ist kein starres Relikt – sie wird immer wieder hinterfragt und neu interpretiert. Mit dem EU-Beitritt 1995 trat Österreich einer Gemeinschaft bei, die eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP & PESCO) verfolgt, was faktisch engere Kooperation bedeutet. Gleichzeitig pflegt Österreich seit 1995 eine enge Partnerschaft mit der NATO im Rahmen des „Partnership for Peace“-Programms (PfP). Diese Zusammenarbeit ermöglicht gemeinsame Übungen, Ausbildungen und Missionen – ohne eine formale Beistandspflicht. Seit dem EU-Beitritt beteiligt sich das Land zudem an internationalen Friedenseinsätzen, etwa EUFOR in Bosnien oder KFOR im Kosovo. Rund 500 Soldaten sind 2025 in Auslandseinsätzen aktiv – ein Widerspruch zu einer rein passiven Neutralität, der jedoch immer unter UNO- oder EU-Mandat und ohne militärische Beistandsverpflichtung erfolgt.

Auch steht der Vorwurf im Raum: Die Neutralität ist eine bequeme Ausrede, um sicherheitspolitische Fragen zu umgehen. Das Bundesheer galt seit Jahren als unterfinanziert, die Verteidigungsausgaben lange mit nur rund 0,7 % des BIP im europäischen Vergleich im unteren Feld. Mit dem Krieg in der Ukraine kam allerdings Bewegung in die Debatte: Die damalige Bundesregierung aus ÖVP und Grünen erklärte immer wieder, die Neutralität sei „nicht verhandelbar“. Ex-Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) stellte klar, dass Österreich weder der NATO beitreten noch Waffen in Kriegsgebiete liefern werde.

Gleichzeitig unterstützte Österreich aber die EU-Sanktionen gegen Russland und leistete humanitäre Hilfe für die Ukraine. 2024 stieg das Verteidigungsbudget erstmals auf über vier Milliarden Euro, bis 2027 sollen es bis zu 1,5 % des BIP sein. ÖVP-Staatssekretärin Plakolm sprach in diesem Zusammenhang von einer „wehrhaften Neutralität“: Nur wer sich verteidigen könne, bleibe glaubwürdig neutral. Im Regierungsprogramm 2025 heißt es dazu klar: „Neutralität bleibt, aber Solidarität mit der Ukraine und Kooperation im Rahmen der EU.“

Heinz Fischer bei einem Auslandsbesuch des Bundesheer
Wiki | Bundesheer Fotos - BY-SA 2.0

Die Parteien zur Neutralität

Im Juni 2025 reiste der ukrainische Präsident Selenskyj nach Wien – unterstützt von der aktuellen Regierungskoalition. Die FPÖ wertete den Besuch hingegen als Bruch der Neutralität. Die ÖVP nennt die Neutralität unantastbar, befürwortet allerdings auch eine aktive Teilnahme an einer gemeinsamen EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen bestehender Verträge.

Die mitregierende SPÖ sieht die Neutralität als Kern der österreichischen Identität und als aktives Friedensinstrument. Parteichef Andreas Babler betonte mehrfach, Österreich habe eine besondere Verantwortung als neutraler Vermittler, gerade im Ukraine-Krieg: Solidarität ja – aber keine Waffenlieferungen, keine Hintertür zu einem NATO-Beitritt. Die NEOS fordern eine offene Debatte: Neutralität dürfe kein Dogma sein, sondern müsse Teil einer europäischen Sicherheitsarchitektur sein. Langfristig können sie sich sogar eine gemeinsame europäische Armee vorstellen – solange Österreich mitbestimmen kann. Einen schnellen NATO-Beitritt schließen auch sie aus.

Die Grünen wiederum bekennen sich zwar zur „immerwährenden Neutralität“, betonen aber, dass diese zeitgemäß gestaltet werden müsse. Der Beitritt Österreichs zur europäischen Luftverteidigungsinitiative Sky Shield gilt ihnen nicht als Bruch, sondern als logischer Schritt, um die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Abgeordnete wie David Stögmüller oder Monika Vana verweisen darauf, dass gerade kleine Länder auf Kooperation angewiesen seien. Sky Shield sei ein Beispiel für „wehrhafte Neutralität“. Zugleich warnen die Grünen davor, sich ausschließlich auf militärische Mittel zu verlassen, und fordern mehr Investitionen in Cybersicherheit, Katastrophenschutz und zivilgesellschaftliche Maßnahmen – etwa Entminungsprojekte in der Ukraine.

Ganz anders sieht das die FPÖ. Sie lehnt jede Form der Mitwirkung ab, die aus ihrer Sicht die Neutralität untergräbt. Sky Shield lehnt sie ab. Außenpolitiksprecherin Susanne Fürst wirft der Regierung vor, die Neutralität „totzutreten“ – durch Solidarität mit der Ukraine und finanzielle Beiträge an die EU für militärische Zwecke. Der Selenskyj-Besuch war für die FPÖ eine Provokation. Sie fordert eine Rückkehr zu einer strikten Neutralität: keine Waffen, kein Geld, keine politische Unterstützung für Kriegsparteien.

Doch während die FPÖ Waffenlieferungen oder finanzielle Hilfen an Kiew als Bruch der Neutralität brandmarkt, verschweigt sie oft ihre eigene Nähe zu Moskau: FPÖ-Politiker pflegen seit Jahren enge Kontakte zur russischen Politik. 2016 schloss die FPÖ einen „Freundschaftsvertrag“ mit Putins Partei Einiges Russland. Parteichef Herbert Kickl bezeichnet EU-Sanktionen regelmäßig als „selbstschädigend“ und fordert deren Aufhebung, was der Mehrheitsmeinung widerspricht. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie und Datenanalyse unterstützten 2024 rund 69 % der Österreicher die EU-Sanktionen gegen Russland. Zudem stimmten FPÖ-Abgeordnete im Nationalrat wiederholt gegen Resolutionen, die Russlands Angriffskrieg verurteilen. Kritiker werfen der FPÖ deshalb vor, Neutralität als Deckmantel für eine Politik zu missbrauchen, die Putins Interessen in Europa nützt. Denn Neutralität bedeutet nicht, sich völkerrechtswidrigen Aggressoren anzunähern oder sie rhetorisch zu entlasten.

Demonstration „Flüchtlinge willkommen! Nein zur Festung Europa!“ am 19. März 2016 in Wien
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Echte Neutralität für dauerhaften Frieden

Gerade in einer Welt, die von neuen Krisen, bewaffneten Konflikten und aufgerüsteten Machtblöcken geprägt ist, wird Neutralität für Österreich zu einer Gratwanderung. Einerseits steht das Land fest in der EU, unterstützt Sanktionen gegen Aggressoren und leistet humanitäre Hilfe, andererseits will es keine Waffen liefern und sich keiner militärischen Beistandspflicht unterwerfen. Dazu kommt, dass Österreich oft die Neutralität als politisches Schutzschild nutzt, um heikle Debatten zu umgehen – etwa über eine realistische Ausstattung des Bundesheeres oder die Rolle des Landes in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Dieser Spagat zwischen Solidarität und Zurückhaltung erfordert ständige politische Abwägung – und zeigt, wie herausfordernd es ist, Neutralität im 21. Jahrhundert mit Inhalt zu füllen, ohne sie auszuhöhlen.

Gleichzeitig bedeutet Neutralität aber nicht nur militärische Abstinenz, sondern auch aktives Engagement für Diplomatie, Friedenssicherung und Vermittlung – sowie eine glaubwürdige, menschenrechtsbasierte Asyl- und Flüchtlingspolitik, die tatsächlich Schutz bietet. Hier zeigt sich jedoch, dass Österreich seinem eigenen Anspruch oft nur bedingt gerecht wird: Die Rolle als internationaler Vermittler wird durch parteiische Positionierungen untergraben und international tritt man kaum als wirkungsvoller Vermittler auf - weder in Gaza noch in der Ukraine.

Auch der Umgang mit Geflüchteten und anderen marginalisierten Gruppen entspricht kaum den humanitären Werten, auf die man sich beruft. Fehlende Investitionen in Soziales, Bildung und Gesundheit gefährden zunehmend den inneren Frieden, denn die Folgen sind ein gesellschaftlicher Rechtsruck und umfassende soziale Ungleichheit. Auch machen sich aktuell nahezu alle österreichischen Parteien dafür stark, Menschen in Kriegsgebiete abzuschieben. Gleichzeitig exportieren heimische Waffenfirmen wie Glock, Steyr Arms oder Hirtenberger Defence jedes Jahr Rüstungsgüter im Wert von rund 100 bis 150 Millionen Euro in alle Welt und fördern damit aktiv Konflikte.

Kurz gesagt: Österreich hält an der Neutralität fest, aber in einer Weise, die sich der sicherheitspolitischen Realität anpasst und sich kritisch betrachten lässt - sei es aufgrund von Rüstungsexporten oder internationaler Parteinahme. Ob das Prinzip damit noch seinem ursprünglichen Sinn entspricht oder nur symbolisch vor sich hergetragen wird, hängt zukünftig davon ab, ob es gelingt, diese Neutralität mit echter Verteidigungsbereitschaft, aktiver Friedenspolitik, einer unabhängigen Diplomatie, gemeinsame Sicherheit und einer humanen Asyl- und Menschenrechtspolitik zu verbinden. Nur dann bleibt sie mehr als ein politischer Mythos.

Hinweise: Die Friedensorganisation ABFANG setzt sich für eine aktive Neutralität ein. Ein anerkannter Experte für die österreichische Neutralität ist Prof. Heinz Gärtner.

Work in Progress. Hinweise und Mitarbeit willkommen!

Autor: Maximilian Stark 23.07.25, Update: 25.10.25, lizenziert unter CC BY-SA 4.0

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