Flüchtlinge - Europa
➡️ Geflüchtete in Europa und die EU-Asylpolitik
2023 wurden in der EU 1,1 Millionen Asylanträge gestellt. Das ist ein Anstieg um 18 Prozent zum Vorjahr. In dieser Anzahl sind die über vier Millionen Geflüchteten aus der Ukraine nicht erfasst – sie haben einen "vorübergehenden Schutzstatus" erhalten. Die meisten Menschen, die einen Asylantrag stellten, kamen 2023 aus Syrien (181.400), gefolgt von Afghanistan (114.300), Türkei (100.800) und Venezuela (68.000).
Die meisten Anträge wurden in Deutschland (334.100) gestellt, danach folgten Frankreich (167.000), Spanien (162.400) und Italien (136.100). Die Schutzquote in der EU, also der Anteil an Asylbewerbern, denen Schutz gewährt wurde, lag 2023 bei 43 Prozent. Die Quote variiert stark zwischen den verschiedenen Herkunftsländern. So ist die Schutzquote für Menschen aus Syrien 94%, während sie für Menschen aus Venezuela bei 3% liegt.
Auch die Zahl der Geflüchteten, die in Europa unterkommen, ist in den letzten Jahren nochmals stark angestiegen – von 7 Millionen Ende 2021 zu fast 13 Millionen Ende 2022. Dies umfasst allerdings auch Geflüchtete in der Türkei; mit 3,7 Millionen Menschen nimmt das Land die meisten Menschen auf. Dahinter folgt Deutschland mit 2,1 Millionen Geflüchteten im Land. Weltweit waren 2023 über 114 Millionen Menschen auf der Flucht.
Auf unserer Schwesterseite Better World Info finden sich zudem umfassenden Beiträge auf Englisch zu Refugees and Migrants.
Fluchtrouten nach Europa
Die Flucht übers Mittelmeer
Um auf das Gebiet der EU zu gelangen, gibt es verschiedene Routen für Geflüchtete. Eine der bekanntesten und am meisten frequentierten Routen ist die Mittelmeer-Route. Hierüber versuchen Menschen aus Ländern Nordafrikas, wie Libyen, Ägypten, Marokko oder Tunesien, nach Europa zu gelangen. Sie setzen häufig in seeuntauglichen Booten über und haben das Ziel, in Länder wie Italien, Griechenland, Malta oder Spanien zukommen. Diese Überfahrten sind extrem gefährlich und haben oft tragische Folgen, da die Boote überladen sind und viele Menschen ertrinken.
2023 nutzten 179.000 Menschen diese Route, in diesem Zeitraum sind über 3.000 Menschen bei dem Vorhaben gestorben, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Seit 2014 geht man von über 21.000 ertrunkenen Menschen aus. Hinzu kommt die gefährliche Route zur Mittelmeer-Küste in Nordafrika, die oft durch Kriegsgebiete führt und zwischen 2014 und 2023 auch vielen Tausend Menschen das Leben gekostet hat. Es gibt zudem Berichte, dass EU-finanzierte Sicherheitskräfte in Tunesien Menschen auf ihrer Flucht verschleppen und in der Wüste aussetzen.
Die Küstenwachen aus Spanien, Griechenland und Italien überwachen den Mittelmeerraum in Kooperation mit dem europäischen Grenzschutz Frontex. Die Organisation war zunächst als Koordinationsstelle für die EU-Grenzpolizei gedacht, aber übernimmt zunehmend operative Funktionen.
So werden eigene Einheiten ausgerüstet und für den Grenzschutz bereitgestellt, EU-Grenzschützer trainiert und Abschiebungen unterstützt. Bis 2027 soll die Agentur mit 10.000 ständigen Einsatzkräften massiv ausgebaut werden. Dafür steigt auch die jährliche finanzielle Unterstützung auf über 900 Millionen Euro. Sie arbeiten dabei auch eng mit Einheiten aus Libyen, der Türkei und Marokko zusammen. Immer wieder werden dabei auch Pushbacks, also die illegale Zurückweisung oder Rückführung von Geflüchteten, dokumentiert.
Pushbacks sind nach EU-Recht illegal, da sie gegen das Recht auf Asyl und das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen. Diese Praxis verweigert Menschen das Recht, einen Asylantrag zu stellen, und setzt sie erneut der Gefahr von Folter, Verfolgung oder anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen aus. Frontex-Einheiten waren nachweislich an solchen Pushbacks beteiligt. Eine Kontrollgruppe des EU-Parlaments warf der Behörde 2021 vor, Berichte über Menschenrechtsverletzungen systematisch zu ignorieren. Darüber hinaus wird auch mangelnde Transparenz und Rechenschaftspflicht kritisiert.
Als Reaktion auf die steigende Zahl an verstorbenen oder vermissten Geflüchteten auf der Mittelmeer-Route, gründeten sich ab 2014 auch vermehrt zivile Hilfsmissionen, um selbstständig Menschen in Seenot zu retten. Beteiligt sind Sea Watch, Sea-Eye, Jugend rettet, Migration Offshore Aid Station oder Mission Lifeline. Ab 2017 sank die Zahl der Verstorbenen im Mittelmeer-Raum. Forscher führen das vor allem auf die zivilen Rettungsmissionen zurück, die näher der libyschen Küste patrouillierten als die EU-Missionen.
Auf politischer Ebene wurden den NGOs immer wieder vorgeworfen, mit Schleuser-Banden zusammenzuarbeiten. Die Regierungen von Italien und Malta setzten mehrere Rettungsboote fest und verhafteten Aktivisten - die Anschuldigungen haben sich bislang nicht bewahrheitet. Aber durch den politischen Druck und die Repressionen haben sich seit 2017 einige Organisationen zurückgezogen und ihre Missionen eingestellt. Wiederholt gab es auch gewaltsame Übergriffe durch Einheiten der libyschen Küstenwache, die auch versucht, rigoros Boote am Ablegen zu hindern. Der Schwerpunkt der Ablegestellen hat sich seitdem nach Tunesien verlegt und die Zahl der ertrunkenen Geflüchteten ist wieder angestiegen.
Flucht über Osteuropa
Die Balkan-Route ist eine andere viel genutzte Passage für Migranten aus dem Nahen Osten, insbesondere aus Syrien. Sie reisen oft über die Türkei und gelangen dann nach Griechenland, von wo aus sie ihren Weg durch Länder wie Albanien, Nordmazedonien, Serbien und Bosnien und Herzegowina fortsetzen, um schließlich in der EU anzukommen.
Zwischen Januar und Juli 2023 wurden in Serbien über 51.000 Menschen auf dieser Route registriert. Sie wurde in den letzten Jahren massiv befestigt, um Menschen an einer Reise nach Europa zu hindern. Griechenland, Nordmazedonien und Bulgarien haben kilometerlange Grenzzäune errichtet, die ständig patrouilliert und bewacht werden. Auch in Ungarn, Slowenien und Österreich wurden Grenzanlagen gebaut, um eine illegale Einreise aus dem Süden zu erschweren.
Eine weniger bekannte Route ist die nordosteuropäische Route, die durch Länder wie die Ukraine, Belarus und Moldawien verläuft und Migranten in Richtung EU-Grenzen führt, hauptsächlich nach Polen, Litauen und Lettland. Vor allem in den letzten zwei Jahren wird sie vermehrt genutzt, auch weil die belarussische Regierung gezielt Menschen an die Grenzen bringt und diese Route unterstützt.
In Litauen, Estland, Lettland und Polen wurden daraufhin massive Grenzzäune und umfassende Sperrzonen errichtet. Auch hier werden illegale Pushbacks von europäischen Grenzschützern dokumentiert. Das belarussische Militär verweigert den Geflüchteten allerdings auch eine Rückkehr, so dass viele von ihnen gezwungen sind, im Grenzgebiet zu verbleiben.
Situation von Geflüchteten in Europa
Viele Geflüchtete leben in überfüllten und schlecht ausgestatteten Lagern, insbesondere in Ländern an den Außengrenzen der EU wie Griechenland und Italien. Diese Lager sind oft von unzureichender hygienischer Versorgung, fehlender Privatsphäre und mangelhafter Infrastruktur geprägt, was die Lebensbedingungen der Bewohner extrem erschwert. In vielen Lagern fehlt es zudem an grundlegenden Dienstleistungen wie medizinischer Versorgung, Bildung und psychosozialer Unterstützung.
Das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos erlangte dahingehend traurige Berühmtheit. Für 2800 Menschen konzipiert, lebten dort zeitweise über 20.000 Menschen in schlecht isolierten Zelten und unter katastrophalen Bedingungen. Anfang 2020 zerstörte ein Brand den Großteil des Lagers und machte viele Menschen obdachlos.
Die schlimmen Zustände in den Lagern Kara Tepe oder Lipa stehen ebenfalls exemplarisch für die vielen Geflüchteten-Camps in Europa, die kaum eine menschenwürdige Unterbringung ermöglichen. Über 40% der Geflüchteten sind Frauen und Mädchen. Sie sind in diesen Lagern besonders gefährdet, Opfer von geschlechterspezifischer Gewalt zu werden. Ebenso wie die 17% unbegleiteter und minderjähriger Geflüchteter, die Gefahren wie Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung ausgeliefert sind.
Schaffen es Geflüchtete trotz der gefährlichen Routen in ein europäisches Asylverfahren zu kommen, ist das nur eine weitere Etappe auf ihrer Odyssee. Denn die Verfahren sind ineffizient und ziehen sich oft monate- oder sogar jahrelang, bis eine Entscheidung fällt. Diese Unsicherheit kann den psychischen Stress und Traumata verstärken, die viele Geflüchtete bereits durch ihre Flucht erlebt haben.
Diese lange Verfahrensdauer beeinträchtigt auch die Integration der Geflüchteten, da sie keine klare Perspektive für ihre Zukunft haben und vom gesellschaftlichen Leben weitestgehend ausgeschlossen sind. In einigen europäischen Ländern ist es Geflüchteten erlaubt, während ihres Asylverfahrens zu arbeiten oder eine Lehre anzufangen, während es in anderen Ländern restriktiver gehandhabt wird.
Oft werden Geflüchtete in standardisierten Verfahren behandelt, ohne ausreichend Rücksicht auf ihre individuellen Umstände zu nehmen. Besondere Schutzbedürfnisse wie traumatische Erfahrungen, Gesundheitsprobleme oder die Situation von Minderjährigen werden nicht angemessen berücksichtigt.
Oft haben Geflüchtete zudem nur sehr begrenzten Zugang zu qualifizierten Anwälten oder Organisationen, die sie bei ihrem Verfahren unterstützen könnten. NGOs, die sich der Rechtsvertretung annehmen, sind oftmals mit der großen Zahl an Verfahren überfordert und haben nicht ausreichend finanzielle und personelle Ressourcen, um alle Fälle adäquat zu unterstützen.
Die Wirksamkeit der Dublin-Verordnung wird ebenfalls angezweifelt, da das Prinzip, dass der Staat, in dem ein Geflüchteter zuerst EU-Boden betritt, für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständig ist, sich als unpraktikabel erwiesen hat.
Diese Regelung belastet insbesondere die Länder an den EU-Außengrenzen und führt zu langen Wartezeiten und unsicheren Bedingungen für Asylsuchende. Ein gerechter Verteilungsschlüssel scheitert bislang am Unwillen vieler EU-Staaten, Geflüchtete aufzunehmen.
Asyl- und Migrationspolitik in Europa
Asyl und Migration sind zentrale Themen im Vorfeld der EU-Wahlen 2024. Insbesondere seit der großen Fluchtbewegung aus Ländern wie Syrien und Afghanistan im Jahr 2015 steht das Thema im Fokus der Politik vieler europäischer Länder. Mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs und der zunehmenden Zahl ukrainischer Geflüchteter hat sich die Situation weiter verschärft.
Die vorherrschende Strategie vieler EU-Länder ist bislang eine restriktive Asyl- und Migrationspolitik, um als Zielland für Geflüchtete unattraktiv zu sein. Die jüngste Asylreform der EU trägt dazu bei, die Lage für Geflüchtete weiter zu verschärfen, denn sie steht für haftähnliche Auffanglager an den EU-Außengrenzen und schnellere Rückführungen in vermeintlich sichere Drittstaaten wie Tunesien oder Algerien. Auch über eine generelle Auslagerung der europäischen Asylverfahren in Drittstaaten wird beraten.
Rechtspopulistische und konservative Parteien nutzen geschickt die aktuellen Ängste der Bevölkerung vor Sozialabbau, steigender Inflation und Konflikten, um eine Politik gegen sozial Schwache und Minderheiten zu betreiben. Sie instrumentalisieren Themen wie Asyl, Integration und Migration, um gesellschaftliche Spaltungen zu schüren und Ängste zu erzeugen, was letztendlich zu einer Politik der Ausgrenzung und Förderung der nationalen Einheit führt. Dabei werden auch rassistische oder diskriminierende Falschmeldungen und Stereotype im Wahlkampf genutzt, um ganze Volksgruppen unter Generalverdacht zu stellen.
Anstatt die Ursachen für Flucht wirkungsvoll zu bekämpfen und Menschen in ihren Heimatländern zu unterstützen, bevorzugen es viele Parteien, Menschen, die vor Krieg, Hunger oder Umweltkatastrophen fliehen, zu stigmatisieren und zu unterdrücken.
Diese Entwicklung wird sich sogar noch verschärfen, da die Klimakrise in den kommenden Jahren Millionen Menschen zur Flucht zwingt. Europa steht daher vor der Wahl zwischen Abschottung und großem Leid oder einem radikalen Kurswechsel hin zu Menschlichkeit und internationaler Zusammenarbeit. Letzteres wäre der humane und nachhaltige Weg - erfordert jedoch ein grundlegendes politisches Umdenken.
Autor: Maximilian Stark 27.05.24, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0
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